Last call!

„Dafür bist du doch zu klein.“
„Deine Beine sind zu kurz.“
„Deine Hüftknochen sind dafür nicht geeignet UND bist du nicht viel zu alt dafür?!“

Als Jugendliche hatte ich einfache nicht das Selbstvertrauen und den Mut es trotzdem zu versuchen. „Besser spät als nie“, wage ich kurz vor meinem 21. Geburtstag, an der Aufnahmeprüfung der Berufsfachschule für zeitgenössischen Tanz in Zürich teilzunehmen. Meine Vorkenntnisse: 

– Mit 7 ging ich ein 1/2 Jahr zum Ballettunterricht und
– bestimmt schon 1000 Tanzstunden in Diskotheken und Clubs absolviert! 

Dementsprechend ist auch die Ballettprüfung mit der dazugehörigen Kleiderordnung, wie rosa Strumpfhosen und schwarzes Ballett-Trikot, meine größte Herausforderung dieser Aufnahmeprüfung. Schließlich gehöre ich zu den “Coolen“ und bin taff. Also weit entfernt von einer disziplinierten jungen Frau, mit einer herkömmlichen Vorbildung und Dutt. Doch ich habe einen Traum – wie ich meine beinah unbändige Leidenschaft fürs Leben vertanze. Denn die Tanzfläche ist mein inneres zu Hause, hier fühle ich mich lebendig. Es ist der Ort, an dem ich mich selbstsicher fühle und mich auch so bewegen kann. Nirgendwo sonst bin ich glücklicher und zufriedener.  

Ohne genau zu wissen, was mich bei der Prüfung, oder vielleicht später während der Ausbildung erwarten wird, noch, wie ich das Ganze finanzieren soll, betrete ich das alte Fabrikgebäude, in der sich die Tanzschule befindet. Etwas unsicher hefte ich mir in der Garderobe, die bei der Anmeldung erhaltene Nummer an mein Trikot und betrete den Tanzsaal.

Gut drei Jahre später unterschreibe ich meinen ersten Vertrag als Musicaltänzerin. Während meinem ersten Engagement lerne ich von den Profikolleginnen meiner erarbeiteten Tanztechnik Ausdruck, Leidenschaft und Emotion zu verleihen. Auch für ein paar andere Mitarbeiter ist dies der erste feste Theaterjob. Das könnte der Grund dafür sein, dass während der technischen Überprüfung vor Showbeginn, gegen das Quietschen der Rollen an einem großen Bühnenelement, versehentlich Silikonspray eingesetzt wird, was zu folgendem Szenario führt: „Last call“ klingt es Backstage und wir Tänzerinnen und Tänzer stehen wie gewohnt auch an diesem Abend in den dunklen Seitengassen auf Position bereit. Das Licht im Saal wird gedämpft und die Nagelmaschinen angeschmissen. Schon erklingt die Eröffnungsmusik, die zusammen mit dem Nebel und der Lasershow die Bühne in eine mystische Atmosphäre hüllt. Mit kribbelnder Vorfreude und Euphorie betreten wir die Bühne mit den ersten Schritten der Choreografie. Da fällt plötzlich ein Tänzer nach dem anderen, ohne erkennbaren Grund hin. Ebenfalls meine Füße scheinen mir nicht gehorchen zu wollen und schon ich finde mich auf dem Boden wieder. „Wenn du patzt, das Kostüm reißt, egal was passiert – einfach weitermachen“ ist eine Regel, die sich alle Darsteller zu Herzen nehmen. Doch plötzlich können wir uns kaum auf den Beinen halten – als ob wir versuchen auf Glatteis tanzen. Einige Minuten vergehen, bis einer nach dem anderen ratlos und auf allen Vieren über den Seitenausgang von der Bühne krabbelt. Dabei bin ich nicht die einige, der vor Lachen die Tränen über die Wangen kullern. 

Was passiert ist? Das Silikonspray hat sich als hauchdünne Schicht über den Bühnenboden verteilt und verleiht ihm eine spiegelglatte Oberfläche.

Bis der Boden durch Abnutzung wieder genügend Griff hat, werden in den folgenden Wochen alle Choreografien Barfuß getanzt. Ein Hoch auf die Hornhaut. 

Nach wundervollen zwei Jahren bei dieser Produktion, packt mich die Neugierde und wenige Wochen nachdem ich in Hamburg am Casting eines großen Kreuzfahrtunternehmens teilgenommen hatte, erhalte ich ein Vertragsangebot für ein neues Engagement auf den Brettern, die mir die Welt bedeuteten.  

Ohne Zweifel schaffen es Bildende Kunst, Schauspiel, Musik und Tanz, unsere Emotionen zu erreichen, egal ob wir konsumieren oder kreieren. Sie spiegeln gesellschaftliche Thematiken wider, zeigen die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit und nehmen uns dabei über das alltägliche Geschehen hinaus, mit. 

Wie schade, dass uns oft bereits in Kindertagen die Flügel gestutzt werden und Redensarten wie, „je höher du fliegst, desto tiefer fällst du“, die kulturellen Ziele, Wünsche und Träume genommen werden. Manchmal so lange, bis wir vergessen haben, dass wir doch alles erreichen können, was wir wollen. Es braucht Leidenschaft und den Glauben daran, den Glauben an sich selbst. „Nur wer sein Ziel kennt, findet den Weg.“ – Laozi 

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